Nicht länger schweigen

Detlev Zander. Foto: privat
Detlev Zander ist Sprecher der Betroffenenvertretung und Mitglied im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt. Seine mehr als zehnjährigen Gewalterfahrungen im Kinderheim der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal hat er literarisch im Roman „Und Gott schaut weg: Die Geschichte des Dieter Z. Ein Kind in der Hölle“ verarbeitet und öffentlich gemacht. Im Beteiligungsforum setzt er sich für Aufarbeitung, Dialog und Veränderung ein. Pfarrerin Dorothee Lindenbaum hat mit ihm für das aktuelle Gemeindejournal Euskirchen gesprochen. Sexualisierte Gewalt ist das Schwerpunktthema.
Herr Zander, damit wir eine Vorstellung davon bekommen: Was ist ihre Aufgabe als Betroffenenvertreter im Beteiligungsforum?
Meine Aufgabe im Beteiligungsforum ist erstens, die Interessen der Betroffenen in den Vordergrund zu stellen und zweitens, gemeinsam mit den Verantwortlichen der EKD und Diakonie Rahmenbestimmungen zu erarbeiten: zum Beispiel, dass für Schutzkonzepte, oder Anerkennung des Leides standardisierte Regelungen gefunden werden. Das Beteiligungsforum ist einzigartig in Deutschland, es ist Betroffenenbeteiligung auf höchster Ebene. Da hat die Diakonie und die EKD mit uns gemeinsam etwas geschaffen, was es so in Deutschland noch nie gab und was auch als Leuchtturm für andere Institutionen gilt.
Bitte beenden Sie folgenden Satz: Die Ergebnisse der ForuM-Studie sind für mich…
… nix neues. Das sind Dinge, die wir als Betroffene immer wieder gesagt haben. Für die Kirche insgesamt glaube ich schon, dass es ein Schock war.
Gibt es etwas, was selbst Sie an den Ergebnissen überrascht hat?
Mich hat überrascht, wie viele Kinder betroffen sind. Ich war tatsächlich immer der Meinung, dass es eher Jugendliche und Erwachsene betrifft. Und, dass die Täter zum Teil verheiratet waren und viele Ehefrauen weggeschaut und so den Missbrauch
toleriert oder geschützt haben. Das hat mich auch sehr überrascht.
Was würden Sie gern den Menschen in den Gemeinden sagen, die jetzt überrascht und schockiert von der Studie sind?
Denen würde ich raten: Ladet uns ein zu einem Gespräch, damit man das alles nicht nur aus der Perspektive der Forschenden hört, sondern tatsächlich aus Betroffenensicht. Und: Lest die Studie gemeinsam, nicht alleine, denn diese Studie kann triggern. Wir wissen alle nicht, wie viele noch betroffen sind. Lasst euch nicht abbringen von denen, die sagen: „Bei uns in der Gemeinde oder im Kirchenkreis gab‘s das ja gar nicht.“ Erstmal wissen wir das gar nicht und außerdem ist das eine Ausrede, mit der manche diese Angelegenheit schnell schnell wegschieben wollen.
Rein statistisch wird es Menschen geben, die dieses Journal lesen, die selbst vom Missbrauch in der Kirche betroffen sind. Was ist Ihr Ratschlag, Ihre Botschaft an diese Menschen?
Das ist immer ganz individuell. Wann ist ein Mensch bereit, seine Geschichte zu erzählen, sie öffentlich zu machen? Ich würde diesen Menschen einfach Mut zusprechen und sagen: Meldet euch, in den Gemeinden oder in den Fachstellen. Auch, wenn ich meine Geschichte nicht erzählen möchte, kann ich sie registrieren lassen. Das ist, glaube ich, ganz wichtig.
Sexualisierte Gewalt passiert in allen Sparten der Gesellschaft in Vereinen, Bildungseinrichtungen, im Leistungssport. Immer mehr kommt ans Licht. Warum ist es so wichtig, dass die ForuM-Studie nun die evangelische Kirche speziell betrachtet? Und: Warum ist sexualisierte Gewalt in der Kirche „besonders“?
Sexualisierte Gewalt kommt in allen Kontexten vor, das ist richtig. Aber die Kirche hat so einen hohen moralischen Anspruch! Deswegen können viele Gemeindemitglieder sich das gar nicht vorstellen. Wenn ich ein gläubiger Mensch bin, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass Menschen, die geschützt gehört hätten, in kirchlichen Einrichtungen sexuell missbraucht wurden. Das ist das Anfällige. Jede und jeder muss sich bewusst werden: Um mich herum gibt es Menschen, die betroffen sind. Es braucht eine Sensibilisierung, was dieses Thema angeht. Wir müssen uns überlegen, wie wir mit manchen Bibeltexten oder Liedern umgehen. Die evangelische Kirche sollte jetzt ihre Chance nutzen. Den Betroffenen zuhören ist wichtig und richtig, aber die Kirche muss nun aktiv und sprachfähig werden! Wenn ich nicht sprachfähig bin, bin ich nicht handlungsfähig. Die ForuM-Studie ist darum kein Bashing gegen die
evangelische Kirche, sondern ein Werkzeugkoffer. Ich sag‘ immer: Wir Betroffene haben euch so viel gegeben, jetzt macht was draus! Wir helfen euch, die dunklen Ecken auszufegen, um dann Strukturen zu schaffen, die es den Tätern und Täterinnen ganz ganz schwer machen, solche Verbrechen an Kindern und Jugendlichen zu begehen!
Wie sieht eine Gemeinde aus, die jetzt Verantwortung übernimmt? Was würden Sie sich von einer Gemeinde wünschen, die versucht, Konsequenzen aus der Studie für ihren Alltag zu ziehen?
Dass jeder weiß: Das ist jetzt so. Die Schockwelle muss in Aktivität übergehen. Dazu Solidarität mit den Betroffenen und nicht sagen „die wollen nur die Kirche beschmutzen.“ Gemeinsam Verantwortung übernehmen heißt, dass wir uns die Details anschauen und wirklich darüber sprechen: Was ist denn bei uns passiert? Warum konnte das bei uns passieren? Wissen Sie, wie viele aus den Gemeinden mir immer wieder sagen: Wir können uns das gar nicht vorstellen. Im Gespräch kann ich meine Geschichte erzählen, aber auch, was ich aus der Geschichte gemacht habe. Man bleibt ja nicht immer Betroffener.
Dann sind wir schon bei der letzten Frage angekommen: Herr Zander, Sie reisen durchs Land, sitzen in Talkshows und sprechen in Podcasts über die Studie, geben Interviews und erzählen immer und immer wieder Ihre Geschichte Woher nehmen Sie Ihre Energie dafür, was ist Ihr Antrieb?
Meine Energie und mein Antrieb ist meine Geschichte. Ich möchte einfach, dass möglichst kein Kind oder kein Jugendlicher aus irgendeiner Einrichtung oder Gemeinde ins Erwachsenenleben entlassen wird mit so einer Hypothek, wie ich sie immer noch zu tragen habe. Menschen, die heute und in Zukunft in Kirche und in den Gemeinden aktiv sind, müssen sensibel gemacht werden, was das Thema angeht! Das Thema sexualisierte Gewalt muss uns in Fleisch und Blut übergehen. Es muss immer aktuell bleiben, wir dürfen es nicht aus dem Blick verlieren.
Herzlichen Dank für das Gespräch!