Kann Anton Schlecker in die Fußstapfen Jesu treten?
Auf jeden Fall würde ich sagen, jeder kann das wenn er nur will! Was Pfarrer Frank Ungerathen in seiner 28minütigen und nie langweiligen Predigt am 5.2.2012 sagte, lesen Sie nachfolgend. Seine einleitenden Bemerkungen zur Entstehung seines Kanzelgrußes hat Pfarrer Ungerathen spontan gehalten und nicht verschriftlicht. Hier der Text:
„Plädoyer für die Barmherzigkeit“
Predigt am 5.2.2012 in der Arche über Mt. 9,9-13
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, der uns tiefer liebt als Vater und Mutter, und von Jesus Christus, seinem Sohn, unserem Bruder und Freund. Amen.
Liebe Gemeinde!
Können Sie sich vorstellen, dass Anton Schlecker, der mit seiner Geizes-Haltung seine Drogeriemarktkette in die Insolvenz geführt hat, in die Fußstapfen Jesu tritt? Oder einer von den Anlageberatern, die den Sparern Lehmann-Derivate angeboten haben oder einer von jenen Händlern, die Wetten auf Nahrungsmittelpreise verkaufen?
Wohl kaum. Jesus und diese Männer sind vermutlich Welten voneinander entfernt. Hier Jesus, der zur Barmherzigkeit unter den Menschen aufruft, dort Broker und Manager, die sich selbst ihre Boni großzügig erhöhen können, weil sie vorher Tausende von Mitarbeitern auf die Straße gesetzt haben.
Zornig und verständnislos werden auch die Zeitgenossen Jesu reagiert haben, die die Berufung des Matthäus in den Jüngerkreis Jesu miterlebten. Matthäus, ein Zolleintreiber, der sich auf Kosten anderer maßlos bereichert. Derselbe Matthäus, der Evangelist, der nach seiner persönlichen Wende ein Buch über Jesus schreibt:
„Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer. Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten“ (Matthäus 9, 13).
„Zöllner und Sünder“ werden meistens in einem Atemzug genannt. Zolleinnehmer sind Sünder: Sie arbeiten für die römische Besatzungsmacht, nehmen mehr Zoll ein als sie dürfen und machen Profit damit. Sie tun Unrecht und fügen anderen Schaden zu. Die Bibel berichtet über einen Tag aus dem Leben eines Zöllners:
Jesus holt ihn vom Baum, schützt ihn vor der wütenden Menschenmenge und kehrt bei seiner Familie ein. Dort, im Kreise seiner Freunde, beim Essen, öffnet sich sein Herz: Zachäus, der Zöllner, erkennt, dass er Unrecht getan hat. Er zeigt Reue. Er bekennt sich zu seiner Schuld. Und: Er leistet Wiedergutmachung an die Menschen, die er betrogen hat.
Jesus nachfolgen. Was heißt das? Zachäus ist eine Beispielgeschichte.
Nachfolgen. Wie geschieht das heute?
Am Beispiel von Anton Schlecker.: Er könnte zur Einsicht kommen, sein Profitstreben zurückfahren und für das Wohl seiner Angestellten Verantwortung übernehmen.
Nur: Bei Matthäus: Am Anfang steht eine persönliche Augenöffnung und ein Entschluss, einen anderen Weg als bisher einzuschlagen…Dazu lädt Jesus ein: „Folge meinem Weg nach“ (9, 9).
Nachfolgen ist kein Muss. Jesus ist kein autoritärer Führer, der uns sagt, wo es lang geht. Sein Wort: „Folge mir“, tritt nicht von oben oder von außen an uns heran. Es bewegt uns erst, wenn wir eine Stimme in unserem Herzen hören, die sagt: „Ich möchte einen neuen Weg einschlagen, ich vertraue dem Weg Jesu“. Aus Sehnsucht, aus Betroffenheit, aus Liebe.
Denn wie er den Zöllnern Zachäus und Matthäus begegnet, so begegnet er auch uns: Mit Liebe. Voller Erbarmen. Er nimmt uns auf in den Kreis seiner Jüngerinnen und Jünger, bedingungslos sagt er Ja zu Dir, zu uns. Er wühlt nicht in unseren Wunden herum, er hält uns nicht ständig unser Unrecht vor. Er spürt unser Herz. Er sieht, dass uns unsere Fehler, unsere Schwächen, unsere menschlichen Unzulänglichkeiten Leid tun. Er merkt, dass wir uns mit Selbstvorwürfen quälen.
Hör auf zu grübeln, sagt Jesus: „Folge mir“.
Manchmal sagt uns eine innere Stimme auch: „Wach auf“. „Steh auf“, „hab keine Angst“. Oder: Folge Deinem Gewissen, wenn Du nicht weiter weißt“.
Die Stimme Jesu in uns ist getragen von Liebe und Erbarmen. Wenn er zu uns/ zu Ihnen spricht, dann schöpft er so wie bei uns aus dem unerschöpflichen Reichtum Gottes, der uns umgibt, hält und trägt. Gott ist Licht. Gott ist Leben. Gott ist Liebe. Nichts, aber auch gar nichts kann uns von seiner Liebe trennen. Die kurze Episode (Matthäus 9, 10 – 13) mit den Zöllnern und Sündern, die mit Jesus an einem Tisch sitzen, ist eingetaucht in die Liebe Gottes. Sie alle sehen wieder Licht. Er gibt ihnen ihre Hoffnung zurück. Er gibt ihnen ihr Selbstwertgefühl zurück. Er befreit sie von dem Makel der Sünde und übler Nachrede. Er befreit sie aus der Umklammerung durch Vorurteile.
„Jesus in schlechter Gesellschaft“ hat ein katholischer Ex-Priester sein Buch betitelt. Er würdigt, wie Jesus durch sein Erbarmen Menschen wieder aufrichtet und den Weg zurück in die menschliche Gemeinschaft zeigt.
Die Gegner Jesu finden es würdelos, dass er sich in diese verrufene Gesellschaft hineinbegibt. In ihrer Welt gibt es klare Unterschiede zwischen Rein und Unrein, Gut und Böse, Stark und Schwach, Gesund und Krank. Sie teilten auch in der Zeit des Römischen Reiches die Menschen in Kasten und Kästen ein, es gab auch damals schon „Schurkenstaaten“ und die „Achse des Bösen“. Menschen wurden in die Guten Menschen und die Terroristen getrennt.
Beispiel aus meinem Sabbatjahr 1994 in einer Amsterdamer ökumenischen Innenstadtgemeinde:
1927 verbot der Kirchenvorstand der Refomierten Kirche dem Pfarrer an der Oude Kerk im Bahnhofsviertel, in seinem Pfarrhaus zu wohnen, weil seine Nachbarschaft aus Prostituierten und Hafenarbeitern bestand, das „gehöre sichj nicht für einen Refomrierten Pfarrer“, war damals die Begründung. Er sollte in einen bürgerlichen Vorort umziehen. In der Reflektion meiner Gemeinde, in der ich 1994 mitarbeitete, war dies Ausdruck der fehlenden Nähe der Kirche zu den wirklichen Problemen der Menschen. Dies zeigte sich auch während der deutschen Besatzung darin, dass es wieder eine der häufigen Kirchenspaltungen gab. Aber nicht an der Frage des Widerstandes gegen Hitlr und die deutsche Besatzungspolitik, sondern an der Frage, ob ein Kleinkind bei der Taufe mit der rechten oder mit der linken Hand mit Wasser übergossen werden solle. Diese Distanz, die sich in der Haltung der Holländischen Reformierten Kirche zu den Nöten des Lebens zeigte, hat sich 1994 in einer Kirchenmitgliedschaft von nur noch 2% in Amsterdam ausgewirkt. Wohingegen meine damalige ökumenische kommunitäre Gemeinde, durch Vorbilder aus Taizé und den belgischen Arbeiterpriestern gegründet, mitten im Bahnhofsviertel in der Nachbarschaft von Prostituierten, Studenten, Universitätsprofessoren, Künstlern, Migranten und Arbeitern gelegen – bei der Taufe eines Kindes aus der Hausgemeinschaft als erstes Blumensträuße von den benachbarten Prostituierten bekam!
Kann Jesus die Hüter dieser alten Welt mit ihren starren Wertvorstellungen erreichen? Er will „Sünder“ in seine Gemeinschaft berufen.
„Gott lässt seine Sonne über Gerechten und Ungerechten aufgehen“, sagt er. Wo führt das hin, wenn wir nicht mehr zwischen Recht und Unrecht unterscheiden?
Dagegen frage ich: Wo führt das hin, wenn wir zwischen Menschengruppen Grenzen ziehen?
„Versöhnen statt Spalten“ hat sich einmal ein Bundespräsident zu Eigen gemacht.
Ein Politiker, der auch ein Jesus – Buch geschrieben hat, hat zu den Auseinandersetzungen um den Bahnhof Stuttgart 21 einen „runden Tisch“ geleitet aus der Erkenntnis, dass wir unterschiedliche Menschen zusammenführen müssen. Nicht „abgrenzen“ sondern „integrieren“ ist angesagt. Wir haben nicht nur die „Parallelgesellschaft“ der Muslime, die bisher nicht integriert sind. Bei uns laufen viele Gesellschaften nebeneinander her: Die Besser- oder Gut-Verdiener und die Hartz-IV-Empfänger. Die Arbeitslosen und die Arbeitsplatzbesitzer, und die Arbeitsplatzbesitzer unterhalb des Mindestlohns.
Wer privat krankenversichert ist, lebt länger als die gesetzlich Versicherten.
Wer kinderreich ist, muss lange oder vergeblich nach Wohnung und Arbeit suchen.
Wer sich wie die Occupy-Bewegung über die Raffgier eines enthemmten Geldspekulationssystem mit ihren gesellschaftlichen Schäden empört, dem wird Sozialneid unterstellt. Nicht Neid, sondern der Wunsch nach Gerechtigkeit beim Verteilen der Güter bewegt diese Menschen und die neuen Armen der neu entstehenden „Unterschicht“.
Wie werden bei Jesus aus „Zöllnern und Sündern“ mwieder gute Menschen? Jesus lässt sich auf sie ein. Er nimmt Kontakt mit ihnen auf. Er stellt eine Beziehung her, die auf Liebe und Wertschätzung beruht. Er überlässt die Menschen nicht der Abschottung in ihren Milieus, sondern führt sie in seiner Jüngergemeinschaft, zugleich eine Weggemeinschaft derer, die ihm nachfolgen, zusammen. Er zeugt ihnen die Wirklichkeit Gottes, die sie wieder Mensch sein lässt, die sie mit Menschen und Schöpfung verbindet und den Hunger der Seele stillt. „Der Mensch lebt nicht nur vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort Gottes“
„Erbarmen will ich, keine Opfer“. Er löst das pauschale Vorurteil über eine Menschengruppe auf. Jede und jeder in seiner Tafelrunde hat sein Gesicht und seinen Namen, seine leidvolle Lebensgeschichte oder eine kriminelle „Karriere“. Er löst das Nebeneinander-her-Leben auf. Sie kommen miteinander ins Gespräch, erzählen ihre Geschichten, sagen sich die Meinung, geben sich Rat, kritisieren sich, streiten sich, umarmen sich. Sie lernen sich kennen. Sie bauen ihre Ängste voreinander ab. Der, der ihnen vorher als fremd und schroff erschien, erweist sich als liebenswert. Es entsteht eine neue Dynamik. Liebe macht sich breit, entfaltet sich und berührt die Herzen der Versammelten.
Die starren Gegensätze von „Du stark – Du schwach…Du gesund – du krank…Du gut – Du böse…“ lösen sich auf. Jeder und jede ist stark und schwach, gut und böse. Jeder und jede trägt den Keim des Guten und des Bösen in sich. Je nach Lebensumständen hat sich die eine oder andere Seite entwickelt. Wer gesund ist, kann krank werden. Wer krank ist, hat gesunde Anteile in sich: Den Lebenswillen, wieder gesund zu werden. Mut, Gottvertrauen, Zuversicht.
Wer heute noch Arbeit und Eigentum besitzt, kann morgen schon in Armut fallen. Wer sich für moralisch unbescholten hält, kann einen Unfall bauen und schuldig werden. Jeder hofft, dass er auf der Schattenseite des Lebens nicht zerbricht und Menschen sich seiner erbarmen.
Kritiker fragen bei Jesus, wie er das Bild einer himmlischen Tischgemeinschaft verwirklichen möchte. Seine Triebkraft ist „Erbarmen“.
Erbarmen kann sich jede und jeder. Mitgefühl steckt in jeder und jedem von uns. Die Liebe ist ein so dominantes Gefühl, dass wir helfen möchten, wenn jemand in Not gerät.
Dieser Nachfolge-Weg lohnt sich. AMEN
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft und tiefer geht als unsere Gefühle, bewahre unsere Herzen und Sinne, unseren Leib und unseren Verstand im Frieden Jesu. AMEN